Von der „guten alten Zeit“ in die Katastrophe – ein eindrucksvoller Vortrag von Bürgermeister Leo Wöhr über die „Zeitenwende 1918“
Das gerade wieder aktuelle Thema und der populäre Referent sorgten für zahlreiches Publikum: Rund 40 Geschichtsinteressierte machten sich an einem nieselgrauen Novemberabend ins Bürgergewölbe auf und ließen sich von Bürgermeister Leo Wöhr über die Zeitenwende 1918 in Weyarn und Umgebung informieren. Der Referent spannte den Bogen seiner Ausführungen vom Ende des 19. Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg, Revolution und Ende der Monarchie, Inflation und Weltwirtschaftskrise bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933.
Besonders beeindruckten die vielen historischen Fotos und Dokumente aus Weyarn und Umgebung, die Wöhr zusammengetragen hatte – eine einzigartige Leistung und mühevolle Arbeit! Anhand von diesen Quellen gelang es ihm, die großen historischen Ereignisse auf die regionale und lokale Ebene herunterzubrechen.
Zunächst ging Wöhr auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein und erklärte, warum sie bis heute immer noch als die „gute alte Zeit“ betitelt wird: Nach dem Sieg über Frankreich im Krieg 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reiches herrschte Aufbruchstimmung. Das Deutsche Reich entwickelte sich zu einer Großmacht, ein selbstbewusstes Bürgertum baute seinen Wohlstand aus, und die Sozialgesetzgebung Bismarcks sollte die blanke Not der Arbeiterschaft lindern.
In unserer Gegend expandierten die Papierfabriken und Sägewerke entlang der Mangfall, ihr großer Energiebedarf konnte aus den nahen Bergwerken in Hausham, Miesbach und Marienstein gedeckt werden. Die Sommerfrischler aus der Stadt fuhren mit der Eisenbahn bis zur Station Thalham und stiegen von dort aus den Taubenberg hinauf, um vom Aussichtsturm aus den Blick auf ein wunderbares Bergpanorama im Südosten und die Münchner Schotterebene bis zur Residenzstadt im Nordwesten zu genießen und anschließend in der beliebten Blockhütte einzukehren. Bei einem frischen Bier und fröhlichem Tanz ließ es sich gut aushalten!
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endete die „gute alte Zeit“ abrupt. Die Mobilmachung forderte ihren Tribut, von Miesbach aus wurden die Männer mit der Eisenbahn an die Front verbracht. Schon nach wenigen Wochen trafen die ersten Meldungen von Gefallenen bei den Familien ein. Kaspar Schuster, zeitgenössischer Bürgermeister von Valley, und Georg Estendorfer, sein Kollege in der ehemaligen Gemeinde Wattersdorf sowie der Lehrer Josef Brunhuber aus Holzolling haben die Kriegsereignisse detailliert beschrieben und die vielen Gefallenen ausführlich dokumentiert – allein in Weyarn und Umgebung starben zwischen 1914 und 1918 weit über hundert Männer. Doch auch zuhause, „an der Heimatfront“, war der Krieg zu spüren: Lebensmittel und Versorgungsgüter wurden teurer, knapp und schließlich rationiert. Die militärischen Rückschläge sorgten für eine zunehmend schlechte Stimmung und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende in der Bevölkerung. Als sich im November 1918 die Matrosen in Kiel weigerten, zu einer erneuten Seeoffensive auszulaufen, schlossen sich schnell auch in anderen Städten kriegsmüde Soldaten und Revolutionäre zusammen, die die Abdankung des Kaisers und die Abschaffung der Monarchie forderten. Der bayerische König Ludwig III. setzte sich bereits am 7. November ins Ausland ab, am gleichen Tag rief Kurt Eisner die Republik Bayern aus und bildete eine provisorische Regierung aus einem Arbeiter- und Soldatenrat.
Der politische Umbruch verlief in unserer Region zunächst ganz unspektakulär und bei den ersten Landtagswahlen im Januar 1919 erlangte die Bayerische Volkspartei wie schon vor dem Krieg die meisten Stimmen – nur in Gotzing kam die MSPD (Mehrheitssozialdemokraten) auf einen Stimmenanteil von 50 % – ein Zeichen für das im Industrieort Thalham vorhandene Arbeitermilieu.
Die Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar 1919 löste heftige Unruhen und eine zweite Welle der Revolution aus. Auch in Miesbach sollte eine kommunistische Räterepublik installiert werden. Wöhr fand heraus, dass sich daran auch Arbeiter aus Thalham beteiligten. Doch sowohl in Thalham als auch in Pienzenau organisierte sich rasch eine bewaffnete Heimwehr gegen die Spartakisten, die im Mai 1919 nach Miesbach marschierte. Die Revolutionäre hatten allerdings bereits das Weite gesucht. Das Kapitel der Miesbacher Räterepublik war damit – unblutig – beendet.
Für seine Ausführungen zu Inflation und Weltwirtschaftskrise zeigte Wöhr nicht nur zeitgenössische Zeitungsannoncen, in denen phantastisch klingende Preise für Güter des täglichen Bedarfs bezahlt werden mussten. Er brachte auch historische Münzen aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit, die „in der schlechten Zeit“ aufgrund ihres Materialwertes im Umlauf waren. Die Weltwirtschaftskrise im November 1929 traf die Region hart. Wöhr erzählte beispielhaft vom Schicksal der großen Thalhamer Papierfabrik Bacharach, die ihren Betrieb schließlich einstellen musste.
Revolutionäre vor Miesbach
Die Sorge steht den Papierarbeitern ins Gesicht geschrieben – die letzte Schicht in der Papierfabrik Bacharach in Thalham am 14.12.1929. Bildarchiv AK Geschichte
In einem letzten Teil stellte Wöhr die Phase der Machtübernahme der Nationalsozialisten in der Region dar. Die im April 1933 angeordnete Neubesetzung der gemeindlichen Gremien verlief nicht ganz reibungslos – in Gotzing war bis dahin noch gar keine NSDAP-Ortsgruppe vorhanden, in Holzolling fuhr die SA vor, um Druck auf den Gemeinderat auszuüben. Dennoch ging der Umbau des Staates entsprechend der politisch-ideologischen Ziele der Nationalsozialisten rasant und ohne erkennbaren Widerstand vonstatten: Bis Ende Juli war der Pluralismus in den Gemeindeparlamenten aufgehoben. Eine neuerliche Zeitenwende begann.
Der Vortrag basiert auf dem Beitrag von Leonhard Wöhr: Finanzwirtschaft und Politik vom Ersten Weltkrieg bis zur Machtübernahme Hitlers in: Weyarn in Kriegszeiten. Was in der Heimat geschah. Regionale Berichte mit Dokumenten, Bildern und Zeitzeugenaussagen aus den beiden Weltkriegen, 470 Seiten, erschienen 2012, ISBN-Nr. 978-3-937425-04-7, 29,-- €
Katja Klee